Wir Menschen treffen etwa 20.000 Entscheidungen am Tag. Wir Menschen haben vermutlich auch drei Gehirne: das große Gehirn in unserem Kopf und vergleichsweise kleine, autonome Nervensysteme in unserem Herzen und Bauch (Frederic Laloux, Reinventing Organizations, 2015:2). Ist das wohl der Grund, warum Gruppenentscheidungen ganz besonders mühsam sind? Nicht nur. Insgesamt sind Gruppenentscheidungen oft mühsam, weil sie viele komplexe Variablen beinhalten, darunter individuelle Unterschiede, soziale Dynamiken und die Komplexität der Entscheidungen selbst. In diesem Artikel schaue ich darauf, wie der Schmerz der Gruppenentscheidung durch systemisches Konsensieren erleichtert werden kann und was das ganze im Kontext einer Mediation bedeutet.
Der schnellste Weg: Die Chefin entscheidet
Der schnellste Weg zu einer Entscheidung führt über die Chefin. Dafür ist sie immerhin auch Chefin – richtig? Wenn die Chefin entscheidet, hat auch sie die Verantwortung, wenn es schief geht. Das ist eine Entlastung für das Team. Tatsächlich war dieser Weg jahrzehntelang erfolgreich und hat das industrielle Zeitalter geprägt. Heute ist dieser Weg eher steinig: Zum einen, da im Informations- und Wissenszeitalter Entscheidungen blitzschnell getroffen werden müssen und Teams nicht immer auf die Chefin warten können. Auch kann diese Verantwortung ziemlich belastend für die Chefin werden. Zum anderen, weil die Unterstützung aller für die Entscheidung der Chefin maßgeblich zum Erfolg beiträgt. Das ist besonders interessant, wenn eine Entscheidung nicht mitgetragen wird und zu einem Konflikt führt. Eine Alternative zu autoritären Entscheidungen ist das systemische Konsensieren, was wir uns jetzt genauer anschauen:
Systemisches Konsensieren: Widerstand messen
Hierbei handelt es sich um eine Methode der Entscheidungsfindung, die den Widerstand gegenüber Entscheidungen aller Gruppenmitgliedern misst. Die Option, die den geringsten Widerstand erfährt, ist die erfolgversprechendste und sollte in diesem Ansatz gewählt werden.
Systemisches Konsensieren erhöht die Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Umsetzung. Im Gegensatz zur Mehrheitsentscheidung, bei der eine Mehrheit der Stimmen ausreicht, um eine Entscheidung zu treffen, zielt das systemische Konsensieren darauf ab, eine Entscheidung zu finden, mit der alle Mitglieder einer Gruppe „leben können“.
Diese Methode basiert auf dem Grundprinzip, dass eine Entscheidung nur dann als akzeptabel angesehen wird, wenn niemand ernsthafte Einwände dagegen hat. Die Gruppenmitglieder bringen ihre Bedenken und Vorbehalte gegen eine bestimmte Option zum Ausdruck, und gemeinsam wird nach einer Lösung gesucht, die für alle akzeptabel ist.
Systemisches Konsensieren wird oft in Gruppen verwendet, die auf Zusammenarbeit und Konsensbildung ausgerichtet sind, wie zum Beispiel Teams, Organisationen oder Gemeinschaften. Es fördert darüber hinaus die Einbeziehung aller Mitglieder und stärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit und des gegenseitigen Respekts. Es erhöht auch die Erfolgsaussichten der Entscheidung wesentlich. Endlose Diskussionen, welcher Weg der richtige ist, können so abgekürzt werden, indem man für jede mögliche Option den Widerstand misst.
Wie misst man eigentlich Widerstand?
Dazu braucht man eine Tabelle, die die Namen der Gruppenmitglieder und Entscheidungen aufführt. Jede Option wird durch jedes Gruppenmitglied zwischen 0 (kein Widerstand, “super Idee”, “will ich unbedingt so machen”) und 10 (absoluter Widerstand, “ich hasse das”, “Veto!”) bewertet, wie hoch der Widerstand ist: 0 für keinen Widerstand, 10 für absoluten Widerstand (Veto).
Je Option werden die Werte aller Gruppenmitglieder addiert. Die Option mit dem geringsten Wert wird angenommen. In diesem Beispiel würde „Option A“ angenommen werden:

Kann das auch schief gehen? Absolut. Ich habe in einer Gruppensituation erlebt, dass eine Kollegin derart auf ihrem Weg bestand, dass sie ihre Präferenz mit 0 und alle anderen Optionen mit 10 klassifiziert hat. Durch entsprechende Moderation können diese Extreme abgeschwächt werden. Sollte jemand wirklich in derartigen Extremen denken, ist es ratsam, die Optionen erneut zu evaluieren, um den Widerstand besser zu verstehen.
Ist systemisches Konsensieren nicht völlig übertrieben? So dauert jede Entscheidung ja ewig.
Ja. Das kann sich übertrieben anfühlen. Systemisches Konsensieren macht natürlich nicht Sinn für jede der 20.000 Entscheidungen am Tag. Im organisationalen Kontext könnte es verkomplizieren und verlangsamen.
Es macht dann Sinn, wenn die Akzeptanz und Unterstützung der Entscheidung für den gemeinsamen Erfolg und Fortschritt von mehreren Personen relevant sind. Systemisches Konsensieren kann die Qualität der Entscheidung erhöhen, weil diverse Meinungen das Problem und die Lösung betrachten. Im Bereich organisationales Change Management ist es eine Chance für Stakeholder Management, Förderung von Akzeptanz und Verständnis, Indikation von Hindernissen und Bedenken, kreative Lösungsfindung und Förderung des Engagements und der Eigenverantwortung.
Was hat das mit Mediation zu tun?
In der Mediation entscheidet nicht die Chefin, die den Auftrag zur Teamaussöhnung an die Mediatorin gegeben hat, wie die im Rahmen der Mediation erarbeitete Lösung aussieht. Die Mediatorin entscheidet nicht, welche Lösung zum Tragen kommt; immerhin ist sie eben keine Richterin. In der Mediation muss die Lösung von allen Streitparteien erarbeitet werden. Die Lösung muss von allen akzeptiert und getragen werden.
Systemisches Konsensieren kann die Belastbarkeit der erarbeiteten Lösung antizipieren. Systemisches Konsensieren kann in der Mediation als eine Methode verwendet werden, um zu einer Lösung zu gelangen, mit der alle Parteien zufrieden sind oder zumindest leben können. Hier sind einige Möglichkeiten, wie es angewendet werden kann:
- Identifizierung von Bedenken und Vorbehalten: Als Mediatorin kann ich die Parteien dazu ermutigen, ihre Bedenken und Vorbehalte gegenüber verschiedenen Lösungsoptionen auszudrücken. Dies kann helfen, verborgene Konflikte oder ungelöste Probleme aufzudecken, die die Vereinbarung behindern könnten.
- Konsensbildung durch Einigung auf Mindeststandards: Die Parteien können gemeinsam Mindeststandards oder Kriterien festlegen, die eine Lösung erfüllen muss, damit sie akzeptabel ist. Auf dieser Grundlage können potenzielle Lösungen bewertet und angepasst werden, um sicherzustellen, dass sie den Anforderungen aller Beteiligten gerecht werden.
- Überprüfung der Lösung auf Akzeptanz: Bevor eine endgültige Vereinbarung getroffen wird, kann die Mediatorin sicherstellen, dass alle Parteien mit der vorgeschlagenen Lösung einverstanden sind. Dies kann durch eine offene Diskussion und Abstimmung erreicht werden, wobei das Ziel ist, eine Lösung zu finden, mit der alle zufrieden sind oder zumindest leben können.
Insgesamt kann die Anwendung des systemischen Konsensierens in der Mediation dazu beitragen, die Wahrscheinlichkeit einer belastbaren und für alle Beteiligten nachhaltigen Lösung zu erhöhen.

